Im Nachhinein wird uns vieles klar…warum etwas schief gelaufen ist oder nicht so funktioniert hat, wie wir es gern wollten. Wir erkennen mit einem Mal ganz deutlich, wo wir in unserem Leben falsch abgebogen sind und fragen uns: „Warum habe ich das damals nicht gesehen? Ich hätte es doch besser wissen müssen!“
Wir ärgern uns vielleicht über die vermeintlich „verlorene Zeit“, hadern mit uns und mit unseren Entscheidungen, fragen uns vielleicht, wie viel Leid wir uns hätten ersparen können, wenn wir nur etwas früher klar gesehen hätten. Vielleicht hätten wir unsere Beziehung früher beenden oder den Jobwechsel schon vor langer Zeit angehen sollen? Es gibt vielfältige Situationen, die uns rückblickend ganz offensichtlich erscheinen, aber zu dem Zeitpunkt, in dem wir in der Situation steckten und diese oder jene Entscheidung trafen, eben nicht so klar waren.
Hätte, hätte, Fahrradkette…! Rückblickend zu hadern bringt nichts. Wir machen uns nur selbst fertig, kritisieren uns und fühlen uns schlecht. Was gewesen ist, ist vorbei. Alles sollte genau so sein. Wir treffen immer in jeder Situation unter den gegebenen Bedingungen die für uns bestmögliche Entscheidung. Die Frage nach dem Warum, dem Sinn dahinter erschließt sich uns oft erst wesentlich später.
Das Leben lässt uns bestimmte Lernerfahrungen machen, um an ihnen zu wachsen. Wenn sich unangenehme Situationen wiederholen oder wir meinen, dieselben Fehler wieder und wieder zu machen, dann mussten wir eben „noch eine Extra-Runde drehen“, um das Muster aufzulösen oder zu den Erkenntnissen zu kommen, die wir brauchten. Vorher war es dann noch nicht an der Zeit, wir waren noch nicht reif für den nächsten Schritt – das Leben weiß schon genau, warum. Wir müssen ihm nur vertrauen, dass es uns zum richtigen Zeitpunkt führt.
Auch ich musste Geduld erlernen. Als von Natur aus ungeduldiger Mensch fiel es mir schwer, zu erkennen, dass die Seele ihre eigene Zeitrechnung hat. Lernprozesse, die wir durchleben, empfinden wir häufig in unserem (vermeintlich) vergänglichen Leben, das heute durch raschen Wandel gekennzeichnet ist, als unglaublich lange. Geprägt durch unsere Leistungsgesellschaft nach dem Motto „schneller, weiter, besser“ oder „wer langsam ist, verliert“ geben wir uns selbst nicht die Zeit, die wir brauchen, um Erfahrungen zu verarbeiten, zu integrieren und zu verankern. Doch was sind ein paar Jahre in den Zeiteinheiten der Seele? Wenn es um persönliches Wachstum und persönliche Weiterentwicklung geht, gelten andere Gesetze als in unserem schnelllebigen Alltag. Schließlich geht es darum, auf dem Weg zu unserem wahren Selbst ein solides Fundament zu erbauen. Und das braucht seine Zeit!
In unserer Kindheit werden wir in unserem jeweiligen Familiensystem großgezogen. Unsere Eltern leben uns Muster und Verhaltensweisen vor, an denen wir uns orientieren. Die ersten Glaubenssätze und Leitsysteme entstehen und prägen uns. Diese werden durch das weitere soziale Umfeld, in dem wir uns bewegen, Gruppen, Schule, Freundeskreise etc. im Laufe der Zeit ergänzt. So entsteht – kurz gefasst – unser Leitsystem, das unser Geländer auf dem Weg ins Leben bildet, an dem wir uns erst einmal orientieren. Im Laufe der Jahre verändert sich dieses System. Wir machen unsere eigenen Erfahrungen, suchen nach unserem eigenen Weg und nach unserem wahren Selbst. Manche der Muster aus unserer Kindheit verlieren mehr und mehr an Gültigkeit. Wir erkennen, dass wir alte Glaubenssätze nun nicht mehr brauchen und uns diese vielleicht sogar blockieren. Wir hinterfragen. Neue Orientierungen entstehen.
Das alte Fundament bröckelt hier und da und wird Stück für Stück durch ein neues, langfristig tragfähiges ersetzt. Dieser Prozess benötigt seine Zeit – wie der Bau eines neuen Hauses. Schließlich soll das Fundament nicht beim ersten Sturm einstürzen. Jede unserer Lernerfahrungen ist wie ein weiterer Stein für unser neues Fundament. Er will auf seine Tragfähigkeit sorgfältig geprüft werden, bevor wir ihn dem Gesamtbauwerk hinzufügen.
Vertrauen wir also geduldig dem Leben und dem universellen Zeitplan. Alles geschieht zur richtigen Zeit – genau so, wie es für uns persönlich und für unsere Seele stimmig ist.
Ein Gedanke zu „Die Zeiteinheiten der Seele“